Description (de)
Dissertation, 2023, CC BY-NC-ND 4.0 International
Betreuung: Giaco Schiesser, Marlis Roth
Abstract
Die subjektive Erfahrung von Zeitdruck ist in der heutigen effizienz- und leistungsorientierten Gesellschaft getrieben von einem Paradox: Beschleunigung ist durch ökonomische und technologische Ansprüche allgegenwärtig, zugleich fordern Komplexität und Selbstverantwortung mehr Zeit für Entscheidungen.
Der vorliegende PhD untersucht individuelle und institutionelle Formen des Umgangs mit diskrepanten Zeitanforderungen. Wo und wie werden gleichzeitig stattfindende, unterschiedliche Zeitregime in der Alltagserfahrung unterschiedlicher Altersgruppen subjektiv erlebt? Welche Techniken der Synchronisierung von unterschiedlichen Zeitwahrnehmungen, Rhythmen und Aktivitäten werden von den Betroffenen und Institutionen eingesetzt bzw. erfunden? Wie kann künstlerisch-forschendes Experimentieren mit filmischen Mitteln Asynchronizität herstellen und erfahrbar machen? Inwiefern kann filmisches Denken Erkenntnismöglichkeiten hervorbringen, die (noch) nicht-versprachlichte Zeitwahrnehmungen vermitteln?
Methodologisch entfaltete sich das Vorgehen in einer Forschungspraxis, die analytische und künstlerische Ansätze in einem essayistischen Verfahren von filmischer Praxis und Schreiben verbindet. Einerseits werden unter dem Leitmotiv ‚asynchroner Zeitbestimmung‘ unterschiedliche Aspekte divergierender Zeitwahrnehmungen in einer Reihe von Fallstudien erforscht. An-gesiedelt in Bereichen von immaterieller und Care-Arbeit, in welchen körperliche und affektive Zeitlichkeiten von grosser Bedeutung sind, operieren diese empirischen Untersuchungen mit der Rolle von Lebenszeit (Alter, Biographie, Erinnerung) und mit Formen von Zeitmodi (Tempi; Imperative, Indikative, Konjunktive). Andererseits entwickelt die vorliegende Untersuchung mittels Narration, Fragmentierung, Montage, visuellen und sprachlichen Interventionen, Extraktionen und Verflechtungen spezifische künstlerische Verfahrensweisen der Wahrnehmungs-Fokussierung. Angesichts der subjektiv erlebten Überforderungen gleichzeitiger Ungleichzeitigkeiten tragen sie zu neuen Formen filmischen Denkens und von Denkbildern bei. Sie sind als Anreiz zu begreifen, die eigene Sensibilität für unterschiedliche Zeitverständnisse mittels Empathie zu fördern.
Als Ergebnisse des PhD entstanden drei Artefakte:
– Erstens, ein Film-Essay Face No Dial of a Clock. A cross-temporal fugue, der die inhaltliche Auseinandersetzung der Forschung selbstreflexiv mit methodologischen Interessen für filmische Wahrnehmungsmodalitäten der Asynchronizität verbindet. In das Material aus den Fallstudien der Gegenwart mischen sich zwei spekulative Figuren: eine imaginäre Freundin, Chiara, und deren Spurensuche zu Maya Derens unabgeschlossenem Filmprojekt einer cross-cultural fugue aus den 1940er Jahren.
– Zweitens, eine Textsammlung Denkmotive asynchroner Erfahrungen. Ein Abécédaire zu Material und Prozess filmischen Denkens und
– Drittens, ein Bilderbogen, A–Z, eine grossformatige Zusammenstellung von Bildmaterial zum Abécédaire und zum Film-Essay.
In dem Zusammenspiel der drei Artefakte zeigen sich variierende Sichtweisen auf das Material, die sich wechselseitig erhellen. Die Relationen, Motive und Variationen zwischen den unter-schiedlichen medialen Zugängen bilden eine Textur, die zum Ziel hat, verdichtete Erfahrungen von Asynchronizität kenntlich zu machen, zu vermitteln und zu ermöglichen.